In der wirklich verkehrten
Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen. (in english)
Guy Debord
Technomaden, Antiapparate und andere
Unwägbarkeiten.
Inka
Schube. Sprengel Museum Hanover 2002
In einem der TV-Clips, die Thierry Geoffroy/Colonel für das
Dänische Fernsehen produziert, schildert der in Dänemark
lebende Franzose (*1961), während er vor der Kamera agiert, seine
Wahrnehmungen während einer Wanderung durch Kopenhagen. In
einleitenden Sätzen aus dem Off beschreibt er die Stadt als einen
freien Ort zwischen Traum und Wirklichkeit, als einen Ort, an dem alles
möglich, überall Kunst zu finden sei: Man sieht ihn vor einem
Schaufenster, in dessen Auslage ein Toilettenbecken platziert ist, und
beim Verlassen einer zu einer Ausstellungshalle umfunktionierten Kirche.
Auch auf einem zentralen öffentlichen Platz findet er Kunst: Das
Militär veranstaltet ein Happening. Es führt Waffen vor und
schminkt Passanten, Kindern wie Erwachsenen, Verletzungen und Wunden
auf.
Der Fremde weiß die Bemühungen des lokalen
Tourismusbüros zu würdigen. Auch er lässt sich schminken
- “shooting holes that looks real” – und wird von den Passanten
ausgiebig bestaunt. Thierry Geoffroy/Colonel stellt fest, dass er
für Vorübereilende sichtbar wird: “ It looks very real. You
can foul everybody.” Militärs fachsimpeln amüsiert über
das zum Einsatz gekommene Kaliber und die Tiefe der Verletzung.
Wenig später und nun wieder abgeschminkt – die Wundattrappe wird
nach Art der Soziologen als Probe von der Wirklichkeit sorgfältig
beschriftet und gesichert - erfährt er seine Existenz allerdings
als “invisble man”, als reduziert auf “l‘aer de Paris”. Die Kamera
hält fest, wie ihm unabsichtlich mehrmals nacheinander von vor ihm
laufenden Passanten Glastüren entgegen geworfen werden.
Der Akteur ist nun erneut um Sichtbarkeit bemüht: Er bekleidet
sich mit einem pink gestrichenen Stahlhelm aus der Asservatenkammer des
2. Weltkrieges und einem Mantel, dem mit grobem Pinselstrich die
Sätze “Look at me! Can you see me?” aufgeschrieben werden. Auf
einem der zentralen Boulevards der Stadt spricht er, so ausstaffiert,
entgegenkommende Passanten mit den gleichen Worten an.
Ein jeder weicht ihm aus. Die Menschen antworten bestenfalls mit einem
kurzen “No”, wenden sich ab, flüchten mitunter regelrecht. Der
Fremde steht irritiert in der vor ihm ausweichenden Menge.
Die Logik Thierry Geoffroy/Colonels gebietet es, erneut einen “public
service” - wie zuvor den der Armee - in Anspruch zu nehmen, um sichtbar
zu werden. Nun nutzt er das Fernsehen und posiert, ausgerüstet mit
einer auffällig albernen Mikrofonattrappe, mit anderen Fans im
Hintergrund eines Reporters, der vor laufender Kamera ein
Fußballspiel kommentiert. Hier greift der Spot auf die gesendeten
TV-Bilder zurück und montiert sie zu den ansonsten spontan auf den
Straßen der Stadt entstehenden Bildern. T. G./C. resümiert,
gegen Ende des Filmes, dessen Handlungsverlauf hier nur in Ausschnitten
beschrieben werden kann: “Pink is Live – Rose Selavy.”
Dieser Streifen ist einer der ‚Zuschauerhits‘ aus der Reihe der
inzwischen 20 Kurzfilme, die Thierry Geoffro /Colonel seit 1999 im
Auftrag des dänischen Fernsehsenders DR1 produzierte. Er wird seit
Jahren immer wieder gesendet. Auf den Straßen Kopenhagens wird der
Künstler von ihm Unbekannten mit Zitaten aus diesen Filmen
angesprochen.
Im Kunstraum präsentiert Thierry Geoffroy/Colonel den Clip
eingeklammert von der An- und Absage, also im deutlichen Verweis auf den
Kontext Fernsehen. Er präsentiert zudem, eingefasst in einem
vergoldeten Rahmen, die abgelöste 9mm-Wundattrappe. In Umrisslinie
und grafischer Struktur ähnelt sie denen der fotografischen
Aufnahmen von Atombombenexplosionen.
Neben den sprachlichen und visuellen Verweisen auf das Werk Marcel
Duchamps gelingt es Thierry Geoffroy/Colonel gerade in dieser Arbeit auf
verblüffend einfache wie signifikante Weise, die ‚ontologische
Zweideutigkeit der Medienbilder‘ (Anders) vorzuführen. Er
thematisiert die Differenz zwischen Ereignis und Abbild ebenso wie die
zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Die Wirklichkeit erscheint als
Analogie ihres medialen Abbildes und umgekehrt. Vor dem TV-Gerät
sitzend, ist der Betrachter in einer sich mehrfach wendenden
bildrhetorischen Ellipse verfangen. Lediglich das implizierte
Gelächter über die Absurdität der von dem Akteur
herbeigeführten Situationen, die wiederum ganz der absurden Logik
der vorgefundenen Wirklichkeitskonstruktionen zu folgen scheinen, bietet
einen regelrecht kathartischen Ausgang.
“Visibility” ist, wie die 19 weiteren Filme, eine Art Knoten im
bisherigen Oeuvre des Künstlers. In ihm laufen zahlreiche der
rhizonomartig wuchernden Stränge seiner Arbeit zusammen.
Thierry Geoffroy/Colonels permanente Beschäftigung mit den Themen
des Tourismus als Synonym für die wie auch immer strukturierte
Annäherung an das Andere, Fremde findet ebenso seinen Ausdruck wie
die Auseinandersetzung mit militärischem Denken und dessen
Allgegenwart.
‚Visibility‘ demonstriert zudem die Vorgehensweise des Künstlers,
die immer die eines Soziologen ist. Er sammelt scheinbar vorurteilsfrei
Fakten, arrangiert Versuchsanordnungen und nimmt ‚Proben‘, die er, in
der Ergänzung des semidokumentarisch aufbereiteten Materials, als
‚real objects‘, als physisch greifbare Beweisstücke,
präsentiert.
Thierry Geoffroy/Colonel verwaltet ein ausuferndes Archiv aus Text-,
Bild- und Tondokumenten, Kisten und Koffer voller Zeitungsausschnitte,
Tonbandprotokolle, Fragebögen, C-Prints nach eigenen und fremden
fotografischen Aufnahmen, Identitätskarten Angestellter, bedruckten
T-Shirts, mit Fotografien collagierter Mäntel, gefakter
Presseausweise und Pressebildern von Kunstwerken, die er mit diesen
sammelte. Sie sind Fundstücke und Produkte einer mehr als 15 Jahre
währenden Auseinandersetzung mit der Funktionsweise der technisch
produzierter Bilder in den Massenmedien und der Möglichkeiten des
Einzelnen, sie zu penetrieren, zu besetzen, sie zu dechiffrieren und
sich anzueignen. Sie bilden die “ocular witness”, legen Zeugnis ab auch
von den ständigen Versuchen, individuelle kritische Potenziale der
Mitmenschen gegen die Deutungsmacht der öffentlichen Bilder zu
aktivieren.
In jeder Ausstellung schütten sich andere Segmente dieses Archivs
in immer nach anderen Kriterien kategorisierter Auswahl an die
Wände und auf die Böden der jeweiligen Räume.
Doch ist eben der Ausstellungskontext nur einer von vielen, in denen
der Künstler agiert – es könnte ebenso gut das Radio, das
Fernsehen, ein Sport- oder Rockmusikfest, eine wissenschaftliche
Konferenz, eine Technoparty in einem Bus oder Club oder eine Modenschau
sein.
Thierry Geoffroy/Colonel ist ein Technomade im Reich der Bilder. Er
stellt sich gegen den Strom mit der affektiven, nicht zensierenden
Erkenntnislust eines Kindes. Er stellt selbstverständliche Fragen
und irritiert mit diesem unprätentiösen Verfahren gegebene
Selbstverständlichkeiten, die er in ihrer
Prätentiösität, ihrer Anmaßung gegenüber der
Existenz vorführt. Er benutzt die von den Apparaten der
Bildverwertung zu Verfügung gestellten Programme, um eben diese
Programme vorzuführen.
Thierry Geoffroy/Colonel hält die Duchamp‘sche Gaslaterne
über die Wasserfälle, Ströme und Tümpel der medialen
Bilderflut. Er ist ein Soziologe des Alltags, ein Tramp in jeder Art
öffentlicher Bildkommunikation, ein Hausbesetzer im Reich der
Immobilienverwalter, ein Wächter an der Grenze zwischen privat und
öffentlich. Nur wer ein Visaformular ausfüllt, darf die
Knöpfe seiner in Wanderausstellungen tourenden Mäntel
öffnen. In deren Inneren werden die privaten Bildwelten des Colonel
- auf Textil kopierte und eingenähte Fotografien und Texte -
behütet.
Das Archiv des Künstlers mutet an wie eine Ansammlung medialen
Abfalls: Als sei es geprägt von der Abscheu vor dem Kostbaren,
dessen Preis als zu hoch eingeschätzt wird. Bei genauerem Hinsehen
allerdings geben sich in diesen Deponien des Banalen die Kostbarkeiten
des individuell Bedeutsamen zu erkennen. Sie werden produziert von einem
dichten Netz intellektueller Reflektionen. Es speist sich aus den
kritischen Diskursen um visuelle Evidenz ebenso wie aus dem reichen
Vorrat v. a. französisch beheimateter soziologischer
Auseinandersetzung mit der Medienrealität. Marcel Duchamp und
Daniel Buren werden mit leichter Hand zu Brüdern geschlagen,
irgendwo im Hintergrund sitzen die Paten Vilem Flusser, Pierre Bordieu
und Jean Baudrillard. Das von Henri Lefebvre geprägte Konzept der
Raumproduktion als dialektische Verbindung zwischen den Ergebnissen
räumlich-materieller Praktiken auf der Grundlage von Wahrnehmung,
von mentalen und ideologischen Darstellungen sowie den emotionalen und
psychosozialen Beziehungen und Bindungen scheint sich im Werk Thierry
Geoffroy/Colonels regelrecht zu visualisieren.
Der Colonel allerdings ist, sieht man von einigen Jahren Medizinstudium
ab, Autodidakt. Der einer solchen Position mögliche
antiautoritär intellektuelle Freigeist offenbart sich als sozialer
Impetus: Was der Künstler anstrebt, ist Popularität im Dienste
einer enthierarchisierten und –hierarchisierenden Kommunikation. Nahezu
jeder Ort ist der rechte, um eine Störung zu platzieren. Kein
Kontext ist vor ihm, ist vor einer kritischen Hinterfragung sicher. “In
den Kontext gestellt – Aus dem Kontext geworfen” war 1996 eine seiner
Ausstellungen überschrieben: Thierry Geoffroy/Colonel sammelt,
mitunter in rasender Geschwindigkeit, Bilder ein. Er schneidet, dreht,
wendet, faltet und bewegt sie, schaut ihnen zu, wie sie sich dabei
verändern, fasst zusammen, kategorisiert und schaut den Kategorien
beim Arbeiten zu. Er speist die Bilder erneut in die Medienkanäle
und führt ihre Modifikationen als Mutationen von Bedeutung vor.
Nie allerdings, auch nicht in den fotografischen Sammmlungen
touristischer und immigrantischer Selbstdarstellungen, denunziert
Thierry Geoffroy/Colonel den Einzelnen in seinem Bild-Verhalten. Immer
geht es um den bild-politischen Zusammenhang, in dem dieses Verhalten
wurzelt.
Dass der Künstler immer wieder auf seine eigene Biografie, auf das
militärisch-koloniale Umfeld der frühen Kindheit verweist, ist
also weniger Ausdruck des Wunsches nach künstler-biografischer
Mythenbildung als demonstrative Rückführung des Werkes auf
Geschichte als individuell erlebt.
Wenn etwa Goodie ins Spiel kommt, dieser Mann ohne Namen, dessen
privates Bildarchiv Thierry Geoffroy/Colonel auf einem Flohmarkt
erstand, dann offenbart sich in dieser Figur die Doppelbödigkeit
des Seins: Da ist die öffentliche Figur, ein Mann ohne
Eigenschaften, ein braver Bürger von neun bis fünf im
Büro, Familienvater und Ehemann. Und da ist ein Mensch mit seinen
privaten Sehnsüchten, seinen individuellen Eigenheiten und
Passionen, die nur im Geheimen, doch unter der “ocular witness” der
Kamera gelebt werden konnten.
Wenn Thierry Geoffroy/Colonel anlässlich eines Rockfestivals
Kendo-Kämpfer gegeneinander antreten lässt, die Fotografien
aus beiden Leben Goodies auf dem Rücken tragen, und wenn er die
dritte beteiligte Gruppe bittet, ihre persönlichen
Selbstdarstellungen in ähnlicher Weise zu präsentieren, dann
ist dies nicht mehr und nicht weniger als ein symbolischer Kampf von
privater und öffentlicher bildlicher Verfasstheit von
Individualität. Wenn er allen in Zeitungsfotografien erscheinenden
Militärs blaue Helme malt oder – vom Ausstellungsveranstalter –
malen lässt, dann ist dies ein demonstrativ symbolischer Akt der
poetisch-ironisierenden Befriedung. Wenn er in einer Ausstellung die
Aufsichten einbezieht (auch dies ein symbolisch sozialer Akt) und sie
bittet, jeden Tag Flugzeuge aus den Zeitungsbildern von Militärs
und militärischen Handlungen zu falten und als “fliegende
humanitäre Eingreiftruppen” in den Ausstellungsraum starten zu
lassen, dann ist dies eine auf einfachste Weise animierte Intervention
in die teilnahmslose Antizipation von Geschichte in ihrer massenmedialen
Aufbereitung. Wenn er, in kostenlosen Anzeigenblättern,
Toilettenbecken zum Kauf anbietet, und diese Angebote mit der
Telefonnummer der führenden Duchamp-Exegeten unterschreibt, dann
ist dies – als symbolischer Akt – die Vermittlung zwischen Ding und
Bild, zwischen Wirklichkeit und Fiktion.
Genau an dieser Schnittstelle zwischen den Dingen und den ihren
Erscheinungsweisen operiert Thierry Geoffroy/Colonel, und wenn er dies
im White Cube des Museums tut, dann ist dies nicht mehr und nicht
weniger als ein Fallbeispiel innerhalb des Spektrums sozialer
Bild-Praxis.